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Geschichten aus der SAW

«Wir sind Wohn­partner, Freunde und Familie zugleich»

Istvan und Barnabas Nagy leben zusammen in der SAW-Siedlung Gladbachstrasse. Vater (88) und Sohn (64) leben in «familiärer Wohngemeinschaft»: Wer von den beiden Freigeistern den jeweils anderen unterstützt, ist nie ganz klar. Barnabas erzählt:

«Mein Vater und ich sind 1980, also vor über vierzig Jahren, zusammen aus Ungarn in die Schweiz ge­kommen. Man hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich in Budapest keine Karriere als Musiker machen würde, darum beschloss ich, das Land zu verlassen. Mein Vater zögerte keine Sekunde, mich zu begleiten. Wir sind ein besonderes Gespann, seit meine Mutter die Familie verliess, als ich vier Jahre alt war: Mehr Kumpels als Vater und Sohn, eng verbunden und doch absolut unabhängig in unseren Entscheidungen.

 

Mein Vater ist ebenfalls Musiker, spielt Violine und Klavier, und hat mich in meinem künstlerischen Werdegang stets begleitet und unterstützt. In der Schweiz arbeitete er zuerst als Lagerist bei Jelmoli, aber bald schon als Violinlehrer in verschiedenen Musikschulen in der Umgebung von Zürich. Wir lebten in Leimbach, wo er Jahre später auch in die SAW-Siedlung ziehen konnte. Ich besuchte das Konservatorium in Winterthur und machte in Luzern das Solistendiplom. Später gab ich Konzerte, spielte an den verschiedensten Anlässen und erteilte Musikunterricht. Grössten Einfluss auf mein Künstlerleben hatte der legendäre Geiger Hansheinz Schneeberger, der mir zum guten Freund und Förderer wurde.

 

Ich wohnte lange in Leimbach, immer in der Nähe meines Vaters. Eine teure Wohnung konnte ich mir nie leisten, mir war die Musik immer wichtiger als Reichtum. Anfang 2008 fand ich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft am Spiriplatz. Die Dame, der das Haus gehörte, vermietete sechs Zimmer ihrer Villa an ganz unterschiedliche Menschen. Wir teilten uns zwei Bäder und WCs, und manchmal kochte sie auch und wir assen alle gemeinsam. Ich fühlte mich wohl dort, aber als ich mich 2012 einer Operation unterziehen musste, schlüpfte ich wieder unter die Fittiche meines Vaters, der drei Jahre zuvor in meine Nähe gezogen war.

 

«Wir haben gerade genug Platz, um uns nicht in die Quere zu kommen. Aber auch genug Nähe, um einander beistehen zu können, wenn es nötig ist.»

Barnabas Nagy (64), Siedlung Gladbachstrasse

 

Wir sind froh, dass die SAW uns ermöglichte, zusam­menzuwohnen. Hier kann ich stundenlang üben und mein Vater geniesst es. Das wäre bei vielen Wohn­partnern weniger der Fall. Aber dass wir zusammenwohnen, hat schon auch finanzielle­ Gründe. Als Musiker haben wir beide kein Geld gescheffelt. Und nach Ausbruch der Pandemie gab es für mich schlicht keine Arbeit mehr: keine Kon­zerte, keine Veranstaltungen, kein Unterricht – keine Verdienstmöglichkeiten.

 

Wir haben gerade genug Platz, um uns nicht in die Quere zu kommen. Aber auch genug Nähe, um einander beistehen zu können, wenn es nötig ist. Dabei lassen wir uns unsere gegenseitige Freiheit. Ich gehe meiner Musik nach, mein Vater liest Zeitung und hört Radio. Er interessiert sich viel mehr für die Nachrichten. Mich beelenden sie, das stört meine Gefühle, die ich zum Musikmachen reinhalten muss. Mittlerweile bin ich es, der einkaufen geht, weil ich mit meinen 64 Jährchen mobiler bin als er. Und manchmal stupse ich ihn auch ein bisschen, damit er sich mehr bewegt und fit bleibt. Jetzt, wo mein Vater älter wird, kann ich ihm etwas von seiner Fürsorge zurückgeben und für ihn da sein, wenn er mich braucht.»