«Ich mache jetzt das, was ich will»
Mit der Pensionierung begann für Jürg Streun nicht nur eine neue Lebensphase, sondern auch eine Karriere als Fotograf. Mit seinen Bildern erzählt er viele Geschichten; auch über das Alter.
Jürg Streun ist vieles: Fotograf, Künstler, Grossvater, Harley-Fahrer, «Baby-Boomer» und auch SAW-Mieter. Er ist 73 Jahre alt und steht mitten im Leben. «Alt sein hat viele Vorteile. Ich muss keine Familie mehr ernähren, ich habe mehr Zeit und kann alles gelassener angehen», sagt er. Seit der Pensionierung widmet er sich vor allem seiner alten Leidenschaft, der Fotografie.
Schon als Jugendlicher interessierte sich Streun für Fotografie und Gestaltung. Er lernte Dekorationsgestalter beim Globus und setzte dort die Verkaufsflächen und Schaufenster in Szene. Er erinnert sich: «Ich habe zum Beispiel für die italienischen Wochen einen Markt inszeniert. Mit grossen Fotos und originalgetreuen Ständen.» Später gründete er eine eigene Firma, die grosse Events organisierte, vor allem zur Präsentation von neuen Autos. Streun schwärmt von dieser Arbeit: «Es war immer ein Spektakel: mit Licht, Ton, Fotografie und Videos.» Die Arbeit machte ihn stolz: «Ich habe für fast jeden Auto-Importeur in der Schweiz mindestens einmal ein Auto präsentiert.»
Frühpensionierung und Fotografie
Die Arbeit mit der eigenen Firma hat viel Freude gemacht, aber auch viel Energie gekostet. «Mit der Zeit war ich müde und nicht mehr weit weg von einem Burn-out», blickt er zurück. Er entschied sich für eine Frühpensionierung mit 63 Jahren und übergab die Firma seinen Söhnen. Seither ist er selbständiger Fotograf. «Ich mache jetzt das, was ich will», sagt er.
Jürg Streuns Fotografien finden in der Kunst-Szene grosse Beachtung. Seine Arbeiten wurden mehrmals für die grösste Schweizer Foto-Ausstellung ausgewählt, die «photoSCHWEIZ». Einige seiner Bilder wurden international ausgezeichnet. Zudem fotografiert er im Auftrag, zum Beispiel für das Tagblatt der Stadt Zürich. «Daraus hat sich bei mir eine neue Leidenschaft entwickelt: Geschichten erzählen mit den Bildern», sagt er. Oft füllt er ganze Bilderseiten, etwa zum Züri-Carneval, zum Limmatschwimmen oder zur «Mostete» in Altstetten.
Generation «Boomer» im richtigen Licht
Das Alter war in Streuns Fotografie schon mehrmals Thema: Er fotografierte Frauen über 50 Jahren und erstellte daraus die Schwarz-Weiss-Serie «Schönheit kennt kein Alter». Danach befasste er sich mit seiner Generation, den «Baby-Boomern». Er porträtierte 30 Persönlichkeiten, um der Generation ein Gesicht zu geben, sie ins richtige Licht zu rücken. Denn: «Wir ‹Boomer› werden von den jüngeren Generationen oft als Schmarotzer dargestellt, die ihnen keine gute Welt hinterlassen», sagt Streun.
«Unsere Generation ist nach wie vor aktiv.»
Jürg Streun, 73, selbständiger Fotograf und Mieter der SAW-Siedlung Grünau
Die Porträt-Serie, die in Zürich ausgestellt wurde, sieht er als Antwort auf diese Kritik. Sie zeigt Personen, manche davon Prominente, die sich in Gesellschaft, Kultur und Politik engagieren. «Unsere Generation ist nach wie vor aktiv», betont Streun. Und man dürfe nicht vergessen, wie die heutigen Senior*innen die Welt verändert haben: «Wir haben die antiautoritäre Erziehung begründet, uns von alten Mustern gelöst und uns mit der 68er-Bewegung für ‹Love and Peace› eingesetzt, für die freiere Gesellschaft, die wir heute haben.»
Gelassen loslassen
Mit seinen Fotografien trägt Jürg Streun zu einem neuen Bild des Alters bei. Doch wie sieht er diese Lebensphase selbst? «Ich habe kein Problem mit meinem Alter», sagt er und erklärt: «Mir ist klar, dass ich älter geworden bin. Ich bin 73 und fahre immer noch Harley. Aber in drei bis fünf Jahren werde ich die Harley abgeben. Das ist in Ordnung für mich, ich bin so viel gefahren. Ich kann gut loslassen. Ich habe auch keine Angst vor dem Tod. Ich habe wahnsinnig viel erlebt. Vielleicht nehme ich es deshalb so gelassen.»